Ich sage es mit grosser Freude, ich bin stolz auf die Schweiz, ich bin stolz darauf, Schweizerin zu sein. Dabei geht es natürlich nicht nur um die Schönheit unseres Landes, die unbestritten ist, sei es in den Bergen oder im Mittelland, sei es in der Deutschweiz, Romandie oder im Tessin, sei es auf dem Land oder in der Stadt. Die Schweiz ist schön und vielseitig in den Landschafts- und Städtebildern und genau so vielseitig sind auch wir, die wir hier leben. Und auch unsere demokratischen Strukturen sind vielseitig.
Ich bin stolz auf unsere direkte Demokratie, auf unsere föderalistischen Strukturen, auch mit allen Nachteilen, die es natürlich gibt in einem solchen System. Ich bin stolz auf unsere Meinungsfreiheit, unsere Unabhängigkeit und auf die solidarische Grundhaltung.
Das wir sind, wo wir sind
· Hat auch damit zu tun, weil wir realistisch und in einem gewissen Grad bescheiden geblieben sind. Wir sind uns immer bewusst, dass «vo nüt au nüt chunnt» und wir für unser Leben die Verantwortung übernehmen müssen.
· Es hat aber auch damit zu tun, dass wir seit langem wissen, das Zusammenleben funktioniert nur, wenn wir füreinander gegenseitig einstehen, uns gegenseitig Sorge tragen und uns solidarisch zeigen.
· Wir waren auch immer offen für Veränderungen und haben uns immer wieder zusammengerauft und nach dem Kompromiss gesucht.
Sich zusammenraufen und Kompromisse eingehen, geht nur wenn wir offen sind. Dies ist nicht nur wichtig bei Themen innerhalb der Schweiz, sondern genauso ausserhalb, mit unseren Partnern. Es ist uns in der Vergangenheit immer wieder gelungen, geschickt und gut mit den Nachbarn auszukommen und mit ihnen auch die wirtschaftlichen Beziehungen zu gestalten. Das geht aber nur, wenn man offen ist und auch von sich etwas gibt und nicht nur nimmt und fordert. Wir kennen dies ja auch alle aus dem privaten Bereich, es ist immer ein Geben und ein Nehmen, sonst funktioniert es einfach nicht. «Das schleckt keine Geiss weg!»
Die Schweiz hat es immer wieder geschafft, in der Innen- wie Aussenpolitik, ein gutes Gleichgewicht zu finden und das ist eine sehr grosse Stärke. Ich bin überzeugt, genau auf diese Stärke müssen wir uns auch zukünftig vermehrt fokussieren. Es gibt nicht nur schwarz und weiss und es gibt nicht nur die eine Seite einer Sache. Es gibt viele Nuancen und je nach Blickwinkel verschiedene Sichten.
Wir leben in «ver-rückten» Zeiten und damit meine ich wirklich das «Ver-rücken», also das Verschieben von Realitäten, das zur Zeit stattfindet. Diese Umwälzungen sind nicht so einfach und es passiert sehr viel, das unser Selbstverständnis von uns und unserer Welt plötzlich in’s Wanken bringen kann:
· Wir kommen aus einer Pandemie und wissen noch nicht, wie gut wir das Virus im Griff haben werden, bzw. ob schon das nächste darauf wartet auszubrechen.
· Wir sind konfrontiert mit einem Krieg in Europa, nahe bei uns.
· Wir sind herausgefordert durch die Folgen des Klimawandels und unseren hohen Energiebedarf, der allenfalls nicht mehr so einfach zu decken sein wird in näherer Zukunft.
· Dann sind da die Herausforderungen einer immer älter werdenden Gesellschaft und einem Fachkräftemangel, der vor fast keiner Branche Halt macht.
· Und natürlich ist da auch eine junge Generation, die uns den Spiegel vorhält und mitteilt, dass sie anders leben möchten und die Worklife Balance sehr wichtig ist.
Wir streiten uns darum, was Neutralität bedeutet und wie wir uns demzufolge betreffend Ukrainekrieg verhalten sollen. Wir sind uns nicht einig, wie weit die Zusammenarbeit mit unseren Nachbarn unsere Souveränität tangieren darf. Wir kämpfen mit harten Bandagen darum, was der Staat soll, darf und muss und wie Minderheiten geschützt werden können. Und was die Massnahmen gegen den Klimawandel und die drohende Stromknappheit sein sollen, da kommen wir auf keinen grünen Zweig.
Ich habe auf dem Leitbild der Gemeinde Seon gesehen, dass Ihr auf Solidarität und Eigenverantwortung basiert. Das hat mir ausserordentlich gut gefallen, denn leider ist Solidarität mittlerweile fast zum Schimpfwort mutiert. Ich aber möchte da und jetzt und gerade in diesen «ver-rückten» Zeiten für diesen Wert einstehen. Ich bin dankbar, steht dieser Wert in unserer Verfassung.
Und auch der Kompromiss, der heute vielfach so verpönt ist, ja, auch für diesen schon fast urschweizerischen Wert stehe ich ein. Dieser steht zwar so nicht in der Verfassung, aber das, was den Kompromiss vorausgesetzt sehr wohl, nämlich die Offenheit. Ein Kompromiss gelingt nicht ohne Offenheit. Offenheit für das Gegenüber, Offenheit für Veränderungen, Offenheit, andere Sichtweisen einzunehmen und Offenheit, einander zuzuhören und auch andere Argumente gelten zu lassen.
Wenn Solidarität nicht wäre, dann würde auch die Gemeinde Seon dies spüren, ist sie doch eine Nehmer-Gemeinde beim kantonalen Finanzausgleich. Eine föderalistische Struktur wie wir sie haben, ist nur möglich dank Solidarität. Und diese wird eben auch gelebt mit dem Finanz- und Lastenausgleich und zwar auf Ebene Schweiz und Kanton. Dies gibt zwar alle Jahre mal wieder eine Diskussion, wenn Geber-Kantone und Geber-Gemeinden der Meinung sind, sie wollen nicht mehr so viel zahlen. Aber zum Glück kommen wir immer wieder zur Einsicht, dass es diesen Ausgleich benötigt.
Es ist ja nicht so, dass die Nehmer-Gemeinden und -Kantone mit ihren Ressourcen nicht sorgfältig umgehen würden, aber es gibt nun mal einfach Gemeinden und Kantone, die strukturell benachteiligt sind, bzw. nicht so privilegiert wie andere und darum braucht es in einem föderalistischen System eben die Solidarität untereinander. Und das gleiche gilt auch für Einzelpersonen, die nicht einfach alleine dafür verantwortlich gemacht werden dürfen, wenn sie mal Unterstützung benötigen. Manchmal läuft es im Leben einfach nicht so, wie es sollte.
Bei dieser Gelegenheit möchte ich schon darauf hinweisen, dass Solidarität nichts mit Schmarotzertum zu tun hat. Solidarität bedingt auch Eigenleistung, sonst wird es nicht akzeptiert. Ich glaube aber, dass wir manchmal zu schnell zu Vorverurteilungen neigen, das liegt wohl in der Natur des Menschen. Wir müssen aufpassen, dass wir jene, die auf unsere Solidarität angewiesen sind, nicht automatisch als Schmarotzer ansehen. Wir müssen also gut unterscheiden, zwischen dem einen und dem anderen.
Werte Damen und Herren, ich kann es ganz kurz zusammenfassen: Ohne Solidarität und Offenheit und somit Kompromissfähigkeit und Änderungswillen funktioniert unsere Gesellschaft nicht. Ohne diese Werte entsteht ein Ungleichgewicht und es kommt zu Blockaden und irgendwann knallt es. Und in einer solchen Schweiz möchte ich nicht leben.
Unsere Schweiz hat bis jetzt gut funktioniert
· Weil wir immer wieder irgendwie ein gesundes Gleichgewicht haben halten können innerhalb der Schweiz und mit unseren Partnern ausserhalb
· Weil wir eine Struktur haben, die den Diskurs fördert und in der jede und jeder mitreden und mitmachen kann
· Weil Eigenverantwortung, Solidarität und Offenheit DIE Grundpfeiler sind
All den grossen Herausforderungen, die ich anfangs erwähnt habe, dem «Ver-rücken» von Realitäten können wir nur gemeinsam begegnen und nur mit Offenheit und Solidarität. Mit Extremhaltungen und Angstmacherei auf welcher Seite auch immer, ist uns nicht geholfen.
Ich wünsche mir für die Zukunft der Schweiz, dass wir uns immer an unseren Werten in der Verfassung orientieren und diese Werte weiterhin pflegen und leben zum Wohle uns aller. Und alle, die nun meinen, die hat uns heute nichts Neues erzählt – Wunderbar! 😊 Ich habe auch nichts Neues erfunden, sondern nur daran erinnert, was aus meiner Sicht unsere Schweiz ausmacht und dass wir uns grade auch in diesen unsicheren Zeiten unbedingt darauf besinnen müssen.
In diesem Sinne wünsche ich der Schweiz alles Gute und danke allen, die bereit sind diese Werte zu leben, mitzutragen und einfach zu helfen, dass wir immer wieder sehen, es gibt nicht nur schwarz und weiss, sondern ganz viele Nuancen dazwischen und es ist enorm wichtig, einander zuzuhören und miteinander konstruktiv im Gespräch zu bleiben.
Ich danke den Organisatoren dieser Feier sehr herzlich und Ihnen allen für die Aufmerksamkeit. Ich wünsche allen weiterhin einen schönen 1. August.
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